Kurt Otten
(1926-2016)

Wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag verstarb am 23. April 2016 Prof. Dr. Kurt Otten, Emeritus für Englische Philologie. Die Fachbezeichnung “Philologie” verdient unterstrichen zu werden, denn Kurt Otten repräsentierte eine Anglisten-Generation, für die Literatur und Sprache noch eine unauflösliche Einheit bilden. Zu den von ihm attackierten Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte gehörte die Verengung des Sprachunterrichts auf eine bloß kommunikative Kompetenz. In seinen ungemein anregenden Vorlesungen und Seminaren ebenso wie in seinen Publikationen zur englischen und amerikanischen Literatur hat er immer wieder am Beispiel von Schlüsselwörtern illustriert, in welchem Maße die Sprache den Zugang zu einer Kultur vermittelt.
Der England-Liebhaber war zugleich gegen chauvinistisch-nationalliterarische Verengungen gefeit. Von der Dissertation (Die Zeit in Gehalt und Gestalt der frühen Shakespeare-Dramen, 1954) über die Habilitationsschrift (König Alfreds Boethius, 1964) bis hin zur mehrbändigen Geschichte des englischen Romans und zahllosen Aufsätzen hat Otten Literatur stets als Medium eines Gesprächs über Epochen- und Ländergrenzen hinweg verstanden. Dabei ging es ihm neben einer im Goetheschen Sinne weltliterarischen Perspektive um die Schärfung des historischen Bewusstseins, insbesondere des Blicks für die uns bis heute prägende Kraft der Antike. Kein Altphilologe dürfte sich energischer und scharfsinniger als er für Latein als erste Fremdsprache am Gymnasium eingesetzt haben.
Darüber hinaus praktizierte er die vielbeschworene Einheit von Forschung und Lehre in einem über die gängige Vorstellung hinausgehenden Maße, indem er Literaturwissenschaft stets im Zusammenhang übergreifender Fragen nach dem Sinn von Erziehung, Kultur und Gesellschaft betrieb. Von seiner Dissertation bis zu den Aufsätzen über The Education of Henry Adams oder Haydns Schöpfung hat er Literatur und Literaturvermittlung als Kern eines umfassenden Erziehungsprojektes gesehen, das in einer technokratisch bestimmten Un-Kultur immer mehr gefährdet ist.
Der gebürtige Trierer wurde nach dem Notabitur 1944 zum Kriegsdienst eingezogen, verbrachte fast vier Jahre in französischer und englischer Gefangenschaft, ehe er das Studium der Fächer Englisch, Französisch und Latein in Tübingen aufnehmen konnte. Nach Staatsexamen, Referendariat und Promotion und führte seine akademische Karriere rasch über Habilitation (1962) und Gastprofessur (Hamburg, 1962) zur Übernahme eines Lehrstuhls für Englische Philologie in Marburg (1963). 1975 folgte er einem Ruf nach Heidelberg. Nicht zuletzt dank seines mit humorvollen Aperçus gespickten Vortragsstils wurden seine Vorlesungen oft zu Veranstaltungen für ‚Hörer aller Fakultäten‘.
Die hochschulpolitischen Turbulenzen der späten 60er und frühen 70er Jahre erfuhr er als eine fundamentale Krise des Bildungssystems, in der sich zugleich eine schwere Erschütterung der Gesellschaft insgesamt ausdrückte. Otten hat nie bestritten, dass die Ordinarienuniversität alten Stils schwere Mängel aufwies, was aber in der Folgezeit im Zeichen sogenannter Demokratisierung und Modernisierung von der Politik durchgesetzt wurde, stellte sich ihm als eine Katastrophe dar, die zur Nivellierung von Leistungsmaßstäben und einer Orientierungslosigkeit sondergleichen geführt hatte. Neben die wissenschaftlichen Publikationen traten deshalb seit dem Erscheinen der Hessischen Rahmenrichtlinien von 1972 zahlreiche temperamentvolle Beiträge zu Fragen des Curriculums in Schule und Hochschule (gesammelt in Die Maßlosen, die Arglosen und die Kopflosen, 1993).
Die Sorge um die produktive Bewahrung kultureller und sozialer Normen schlug sich auch immer mehr in seinen literaturwissenschaftlichen Kollegs nieder. Otten bot zehn Jahre nach seiner Emeritierung noch regelmäßig Seminare an. Er hat ca. 70 Dissertationen betreut, viele der von ihm Geförderten haben ihrerseits an Hochschulen Karriere gemacht und sich dafür mit zwei Festschriften bedankt (Studien zur englischen und amerikanischen Prosa, hg. Maria Diedrich und Christoph Schöneich, 1986; Erziehungsideale in englischsprachigen Literaturen, hg. Dieter Schulz und Thomas Kullmann, 1997). Der Umgang mit jungen Menschen und die Vermittlung von Literatur waren ihm stets ein existentielles Bedürfnis, das sich nach dem Tod seiner Frau Lieselotte eher noch verstärkte.
Den jüngeren Kollegen setzte er zuweilen mit Tiraden über den Untergang der Universität zu; schließlich hatten wir selbst, gewollt oder ungewollt, dazu beigetragen. In der Breite seiner Forschungen von der mittelalterlichen bis zur zeitgenössischen Literatur, mit seinem rückhaltlosen Einsatz für den wissenschaftlichen Nachwuchs, und nicht zuletzt dank seines unerschütterlichen Humors hat er immer wieder vorgeführt, in welchem Maße die Ausstrahlung eines Professors weder am Talent zur Drittmittelbeschaffung noch an ‚Synergieeffekten‘ oder gar am ‚Effektivieren‘ von Studiengängen hängt, dass sie vielmehr etwas mit Persönlichkeit und Geist zu tun hat.

Dieter Schulz